Das Geläut unserer Lutherkirche – in intervallischen Zyklen weniger Monate geht dieses Thema wiedergängerhaft durch die sozialen Netzwerke und löst virale Aufregung aus: Die einen sind vom „Krach“ genervt, die anderen schätzen den Glockensound. Ein Grund, das Geläut der Lutherkirche (einmal mehr) zu erläutern. Das ist okay, das Läuten selbst ist deutungsoffen und insofern erklärungsbedürftig.
Die drei Glocken der Lutherkirche rufen zum Gottesdienst, also im Normalfall am Sonntagvormittag, manchmal auch am Sonntagabend und natürlich auch zu den Feiertagen. Es wird vorgeläutet (eine halbe Stunde, bevor der Gottesdienst beginnt, für zehn Minuten), es wird zum Gottesdienst geläutet (erneut für zehn Minuten unmittelbar vor Gottesdienstbeginn). Alles das erfolgt automatisch und ist vorprogrammiert. In der Schulzeit ist um 11:30 Uhr Kindergottesdienst, bei dem die Kinder selbst die Glocken mit großer Freude bedienen. Zu Sondergottesdiensten wird selbstverständlich geläutet (zu Taufen, zu Trauungen). Die Vater-Unser-Glocke ist während jedes Gottesdienstes zu hören und lädt dazu ein, auch außerhalb der Kirchenmauern mitzubeten. Schließlich erklingt zu unterschiedlichen Zeiten die Sterbeglocke, wenn jemand aus der Friedhofskapelle zu Grabe getragen wird.
Vor März 2020 haben wir zusätzlich den Sonntag eingeläutet. Spötter*innen nannten dieses Geläut am Sonnabendabend um 18 Uhr das „Sportschauläuten“. Als die Corona-Pandemie 2020 Neu Wulmstorf erfasste, hat der Kirchenvorstand beschlossen, an jedem Tag um 18 Uhr zu läuten (für zehn, später für fünf Minuten). Dieses Geläut war den Opfern der Pandemie gewidmet und all denen, auf die es in der Bekämpfung von Corona ankam, also Ärzt*innen und Pflegekräften, überhaupt allen, die nicht geschmeidig ins Home-Office abtauchen konnten.
Im März 2022 hat der Kirchenvorstand das 18-Uhr-Läuten umgewidmet; von jetzt an gilt es den Opfern im Ukrainekrieg. Krise folgte also auf Krise, Krisengeläut auf Krisengeläut. Verständlich ist der Wunsch, dass das Sonderläuten wegfallen könnte, weil es keine Krise, keine Toten mehr gibt. Allerdings bleibt das doch ein unrealistischer Wunschtraum. Es gibt viele Soziolog*innen, die Krisen als Dauer- oder Normalfall der Moderne ansehen. Ein Leben ohne Krisen, die würdig schweren Kirchengeläuts sind – leider wird es so nicht kommen. Da muss man kein Prophet sein.
Vor diesem Hintergrund habe ich persönlich das 18-Uhr-Läuten in den letzten Jahren als Unterbrechung und als (willkommene oder unwillkommene) Störung wahrgenommen. Was kann daran falsch sein, sich durchs Geläut das eigene Leben in Relation zur Lebenssituation anderer setzen zu lassen? Ich hatte vielleicht einen miesen Tag, aber es war auch ein Tag, an dem etliche der Pandemie zum Opfer fielen. Vielleicht regte ich mich an einem anderen Tag über die Verkehrssituation in der Bahnhofstraße auf. Ach, wie nichtig – angesichts eines Tages mit Flüchtlingen, Toten und Verletzten in der Ukraine! Das Geläut hilft mir, mein eigenes Leben zu verorten und über meinen Problemlagen nicht andere zu vergessen. Das meine ich mit willkommener Störung.
Zuletzt unterlegte ich die jeweils aktuelle Krise dem deutungsoffenen Geläut: Nach dem 7. Okt. 2023 waren mir im Glockenklang die Opfer der Verbrechen der Hamas sehr nahe, wenige Wochen später die Menschen, die in Gaza unter dem israelitischen Gegenschlag litten. Zuletzt wanderten meine Gedanken beim Geläut zu den Menschen, die auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt von einem AfD-Sympathisanten getötet worden waren.
Es sind nur die Klänge dreier Glocken. Und doch: Wieviel Chance für Empathie und „innere Fürbitte“ liegt in ihnen beschlossen! Let the bells ring!
Florian Schneider, Pastor der Lutherkirchengemeinde
PS
Hier gibt es noch Clips rund um die Glocken der Lutherkirche:
https://www.youtube.com/watch?v=Wey4B15ZeeQ
https://www.youtube.com/watch?v=aZLEnk2jmPc
https://www.youtube.com/watch?v=QbVX2DZd9f8&t=16s